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Aktuelle Forschungen zur Mobilität von Menschen aus und in die eurasische Steppenzone vom 4. Jt. v. Chr. bis ins 1. Jt. n. Chr.

Elke Kaiser leitete gemeinsam mit Tobias Mörtz das Projekt “Bedrohung aus dem Osten? Der eurasische Steppenraum als Konfliktreservoir und Innovationsmotor” im Rahmen des BAK-Jahresthemas “[Mit] Konflikte[n] umgehen”. Im Interview sprechen sie über die Ziele des Projekts, über den Mangel von Polyperspektivität in der Forschung zu Konfliktsituationen zwischen gegensätzlich organisierten Gesellschaften in der Vergangenheit sowie über die Rolle von naturwissenschaftlichen Methoden bei der Erforschung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Interaktionen.

Prof. Dr. Elke Kaiser hat Ur- und Frühgeschichte, Slavistik und Anthropologie studiert und wurde im Fach Prähistorische Archäologie promoviert (2000). Anschließend forschte sie am Institut für Archäologie in Kiew und an weiteren Institutionen, u. a. in Russland, der Republik Moldau und in Polen. 2013 schloss sie ihre Habilitation Das 3. Jahrtausend v. Chr. in der osteuropäischen Steppe ab. Elke Kaiser war Nachwuchsgruppenleiterin der Forschungsgruppe A2 des Exzellenzclusters Topoi. Seit 2014 ist sie Professorin für die Archäologie Westeurasiens an der Freien Universität Berlin.

Tobias Mörtz promovierte über Spätbronzezeitliche Waffendeponierungen Nordwesteuropas und ist seit 2021 Juniorprofessor am Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie der Universität Hamburg. Er betreut dort u. a. die Profilinitiative “Gewalt und Sicherheit in vor- und frühgeschichtlicher Zeit und Moderne”.

 

1. Können Sie einen Überblick über das Forschungsprojekt “Bedrohung aus dem Osten? Der eurasische Steppenraum als Konfliktreservoir und Innovationsmotor” geben? Was hat Sie zu diesem Projekt motiviert? Was genau wollen Sie erforschen?
Im Zentrum des Forschungsprojektes stand die Organisation eines internationalen Workshops, der im März an der Freien Universität Berlin stattfand. Gemeinsam mit Kolleg:innen aus Deutschland, der Republik Moldau, Polen und der Ukraine sollten die aktuellen Forschungen zur Mobilität von Menschen aus und in die eurasische Steppenzone zwischen dem 4. Jahrtausend v. Chr. bis in das 1. Jahrtausend n. Chr. vorgestellt und diskutiert werden. Vor dem Hintergrund der neuesten naturwissenschaftlichen Ergebnisse zur Verbreitung eines „Steppengenoms“ nach Mitteleuropa und einer damit einhergehenden Überprägung der zuvor dominierenden genetischen Marker der frühen Ackerbauern scheint eine kritische Bestandsaufnahme nötig, um Alternativen zum vorherrschenden Narrativ einer raschen und kriegerischen Migration entwickeln und begründen zu können. Ebenso war es wichtig, gegenläufige Bewegungen, insbesondere die Gründung griechischer Kolonien an der Nordschwarzmeerküste in ihren Dynamiken und interkulturellen Eigenheiten zu diskutieren.

2. Die eurasische Steppe wird oft als Quelle von Konflikten und Aggressionen zwischen “Reiternormaden” und sesshaften Gesellschaften dargestellt. Wie kam es zu dieser Darstellungsweise?
Die Vorstellung einer „Bedrohung aus dem Osten“ basiert einerseits auf den historischen Erfahrungen mittelalterlicher Raubzüge, vor allem der Mongolen und Türken. Die europäischen Schriftquellen berichten dabei fast ausnahmslos aus einer Opferperspektive, weshalb sich die Darstellung der Fremden auf den Topos der unzivilisierten, gewalttätigen Barbaren reduziert. Reale, ethnographische Informationen sind selten. So wurde und wird meist übersehen oder bewusst ausgeblendet, dass die ur- und frühgeschichtlichen Menschen in der Steppe die meiste Zeit des Jahres nicht mobil, sondern relativ ortskonstant in Zelt- oder Jurtensiedlungen lebten. Die Konzeptualisierung der Beziehung zwischen agrarischen und pastoralen Gesellschaften als problematisch und konfliktreich findet sich andererseits bereits im Alten Testament, wenn Abel seinen Bruder Kain erschlägt, wobei die Rollen hier umgekehrt sind, also der neidische Ackerbauer zum Täter wird.

3. Ein Aspekt, den Sie in Ihrem Projekt untersuchen, ist die soziale Bedeutung von Frauen in Steppengesellschaften. Können Sie die Rolle der Frauen jenseits der traditionellen Darstellung als Opfer von Raubzügen näher erläutern?
Die Rollen von Frauen bei pastoralen Gesellschaften unterschieden sich wohl deutlich von dem antiken Ideal des Oikos, also der häuslichen Gemeinschaft mit patriarchaler Organisation. Im öffentlichen Leben blieben die Frauen weitgehend ohne Befugnisse und unterstanden dem Familienoberhaupt. Allein zur praktischen Organisation der mobileren Lebensweise mussten alle Mitglieder pastoraler Gesellschaften hingegen über ähnliche Fähigkeiten verfügen, also beispiels-weise das Reiten beherrschen. Aus dieser Perspektive ist von einer gleichgestellteren Position zwischen den biologischen und sozialen Geschlechtern auszugehen. Ob aber Frauen auch kämpften, ist archäologisch weder zu beweisen noch zu widerlegen. Hierbei ist es wichtig, dass vor allem Herodot die Amazonen nicht am Rande, sondern jenseits der bekannten Regionen verortet und damit als Mythos kennzeichnet.

4. Auf welche Weise hat die Interaktion zwischen Steppennomaden und benachbarten Regionen Innovation und sozioökonomische Entwicklung beeinflusst? Gibt es Beispiele für technologische Fortschritte, durch die diese Interaktionen ermöglicht wurden?
Durch archäologische Forschungen ist mittlerweile klar, dass sich wichtige Innovationen der menschlichen Mobilität im Steppenraum vollzogen. Zu den kulturgeschichtlich und technologisch bedeutendsten zählen die Entwicklung des zunächst vierrädrigen Wagens im 4. Jahrtausend v. Chr. als auch des zweirädrigen Streitwagens im frühen 2. Jahrtausend v. Chr. Begleitet wird dies durch die zeitlich dazwischenliegende Domestikation des Pferdes und dessen Nutzung als Reittier. Durch diese Entwicklungen konnten immer größere Distanzen in immer geringerer Zeit überwunden werden, wodurch sich diese Innovationen rasch verbreiteten und auch entfernt lebende Gesellschaften häufiger miteinander in Kontakt kamen – im Positiven wie Negativen.

5. Welche Rolle spielen naturwissenschaftliche Methoden bei der Erforschung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Interaktionen?
Naturwissenschaftliche Methoden, vor allem aDNA-Analysen, haben das Verständnis von Mobilität im eurasischen Steppenraum grundlegend verändert. Ein massiver Eintrag genetischer Marker im 3. Jahrtausend v. Chr. ist dank immer neuer Forschungen unstrittig, womit allerdings noch nichts über die Modalitäten und das Tempo dieses Prozesses und späterer Interaktionen ausgesagt ist. Hierzu bedarf es auch weiterer absoluter Datierungen mit der Radiokarbonmethode oder bestenfalls der dendrochronologischen Altersbestimmung von Hölzern. Zukünftig wird es nötig sein, die beprobten Individuen und Artefakte stärker in ihren spezifischen archäologischen Zusammenhängen zu kontextualisieren, um damit beispielsweise eine Differenzierung von Lokalen und Fremden zu versuchen.

6. Das Narrativ des “Clash of Cultures” wird häufig verwendet, um die Interaktionen zwischen Hirtennomaden und sesshaften Gesellschaften als “konfliktreich” zu beschreiben. Inwieweit können Ihre Forschungen dabei helfen, einseitige Vorstellungen von Konfliktsituationen zwischen gegensätzlich organisierten Gesellschaften in der Vergangenheit zu relativieren und für heutige politische Zwecke zu entkräften?
Die dem „Clash of Civilizations” nach Samuel Huntington zugrundeliegenden Denkmuster sind in ihrer radikalen Vereinfachung vielfach kritisiert worden. Eine wichtige Neuorientierung würde vor allem den Einbezug der Wahrnehmung der Anderen erfordern, also in diesem Falle der Viehzüchter des Steppengebietes. Aktuellen Vereinnahmungsversuchen mangelt es ebenfalls an dieser Polyperspektivität, was von altertumswissenschaftlicher Seite deutlich herauszustellen ist, während eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Motiven und Zielen solcher Vergangenheitsbezüge eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.

7. Welche Erkenntnisse gewannen Sie bei dem Workshop im Rahmen des BAK Jahresthemas 2023/24 “[Mit] Konflikte[n] umgehen”, der die Notwendigkeit eines Umdenkens am eindrücklichsten demonstriert? 
Die Vorträge der Kolleg:innen thematisierten diverse Aspekte der interkulturellen Begegnungen im Steppengebiet, die sich auch nach den jeweils fokussierten Epochen unterschieden. Deutlich wurde dabei, dass es sehr differenzierte, teils widersprüchliche Deutungsoptionen für die archäologischen und historischen Quellen gibt. Einige davon werden seit Jahrzehnten diskutiert und nach dem aktuellen Forschungsstand modifiziert, nur wenige bieten essenziell Innovatives. Es ist also weniger ein Umdenken als ein stetes Neudenken gefragt, wobei die unterschiedlichen Interpretationen nach ihrer Plausibilität und Konsistenz als wahrscheinlich oder weniger wahrscheinlich gewichtet werden sollten.

8. Ihre Forschungen sind von großer gesellschaftlicher Relevanz und Aktualität. Sie zeigen auch, wie wichtig ein verantwortlicher Gebrauch der Antike in modernen Diskursen ist. Wie gelingt Ihrer Meinung nach ein Transfer der Ergebnisse in die Fachcommunity und vor allem in die Gesellschaft?
Wichtig in der Wissenschaftskommunikation erscheint mir vor allem die historische Kontextualisierung vergangener Prozesse. Ein Bezug zu archäologischen und schriftlichen Quellen unterliegt stets einer zeitspezifischen Aussageabsicht, die es zu verdeutlichen gilt. Die öffentliche Wahrnehmung und Dissemination eines interpretatorischen Modells gründen auf der Plausibilität der vorgebrachten Argumente, welche allerdings häufig Vereinfachungen darstellen. Es obliegt dann der Fachgemeinschaft auf Widersprüche und Alternativen hinzuweisen. In dieser Hinsicht sind besonders die nicht berücksichtigten Aspekte aufschlussreich.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
teamredaktion (28. Mai 2024). Aktuelle Forschungen zur Mobilität von Menschen aus und in die eurasische Steppenzone vom 4. Jt. v. Chr. bis ins 1. Jt. n. Chr. Berliner Antike-Blog. Abgerufen am 19. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/11qdc


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